Gnaoua-Musik
Die Gnaoua gehören wie auch die Aissaoua, Gilala und Hamacha, zu den sogenannten volkstümlichen oder heterodoxen Sufi – Bruderschaften in Marokko. Die ursprünglichen Gnaoua sind Nachfahren der aus Westafrika stammenden Soldaten und Sklaven, die Anfang des 18. Jh. unter dem marokkanischen Sultan Mulay Ismail aus dem Songhay- Reich des damaligen Westsudanlandes nach Marokko kamen, und mit denen der Sultan eine schwarze Armee aufbaute. Im Laufe der Zeit mischten sie sich mit der arabisch – berberischen Bevölkerung und siedelten sich unter anderem auch in Lybien, Tunesien und Algerien an. Man nimmt an, dass die Bezeichnungen "Gnaoui" (Singular) und "Gnaoua" (Plural) von dem ursprünglichen Wort für "Guinea" herstammen und damit ihre Herkunft bezeichnet wird.
Die heutigen Gnaouagruppen in Marokko sind aus allen Bevölkerungs-schichten und etablierten Ethnien zusammengesetzt und immer noch gibt es schwarze Maalems, die ihre Herkunft aus Westafrika genau belegen können.
Alle obengenannten volkstümlichen Sufi-Bruderschaften in Marokko pflegen einen Trancekult, bei deren Zeremonien die Teilnehmer in der Ekstase eine unmittelbare Annäherung an das Göttliche erreichen wollen. Dabei sind die Praktiken der Gnaoua wohl am meisten - wie übrigens auch der Condomble Kult in Brasilien und der Trancekult der Santeria in Cuba - aus Schwarzafrika beeinflusst.
Die Gnaoua in Marokko treten als Showtruppe (Trommler, Tänzer, Akrobaten) auf dem Djemma al Fna in Marrakesch auf, spielen mit ihren Liedern Konzerte beim Gnaoua Festival in Essaouira, und machen Heilzeremonien.
Diese Heilzeremonien werden für einzelne kranke Personen veranstaltet für die das angebracht erscheint; daneben gibt es für Sympathisanten und Teilnehmer bestimmte Tage bzw. Nächte an wiederum für Teilnehmer bekannten Orten wo jeder spontan teilnehmen kann.
Solche Veranstaltungen finden vom frühen Abend bis zum Morgengrauen statt und werden bei den Gnaoua "Lila" (von hocharabisch: leila = Nacht) genannt.
Voraus geht die Schlachtung eines Opfertieres - Ziege, Schaf, Stier oder Kamel, und während die Frauen der Gnaoua das Festmahl für alle Akteure und die Gnaoua Familien bereiten, zieht die Truppe der Musiker durch die Örtlich-keit und verkündet den Beginn der Lila.
Die Maalems (von hocharabisch: Muallim, d. h. Meister, so werden die Leiter der Musikgruppe genannt) spielen die "Tbel", eine große Zylindertrommel, die mit zwei unterschiedlichen Stöcken angeschlagen wird, die anderen Musiker spielen die "Qraqeb", Metallkastagnetten, deren Sound an das Rasseln der Sklavenketten erinnert. Der zentrale Teil ihrer Musik ist der Gesang mit typisch westafrikanischem Call und Response. Der Maalem ist der Vorsänger und der Chor antwortet.
Nach dem Essen findet die Trancenacht in zwei Etappen statt:
In der ersten Etappe werden traditionelle Lieder gespielt und die Herkunft der Gnaoua erzählt. Die Musikgruppe hat jetzt an einem zentralen Platz ihre Sitzposition eingenommen. Der Maalem singt vor und begleitet sich auf dem "Gembri", einer dreisaitigen Basslaute, dem afrikanischen Urbass, der ähnlich wie ein moderner E–Bass gespielt wird, und für dessen Spielweise der Maalem seinen Ruf erhält. Der Chor der Qraqebspieler antwortet, einzelne von ihnen stehen nacheinander auf und tanzen mit akrobatischen Einlagen die Herkunftsgeschichte.
Dann gibt es eine Pause, das Publikum ist eingestimmt und entspannt sich.
In der zweiten Etappe findet eine Geisterbeschwörung bzw. eine Befreiung von schädigenden Einflüssen, sogenannten Besessenheiten statt. Dazu tritt ein Zeremonienleiter, ein sogenannter Moquadem hinzu, der die Zeremonie durch die einzelnen Phasen der Nacht führt. Es gibt Lieder für insgesamt 22 Gruppen von Geistern (Mluks), die beschworen werden. Es werden nicht immer alle Lieder gespielt, aber eine Auswahl wird getroffen, je nachdem wer oder was geheilt werden soll, da jeder Geist etwas Bestimmtes verursacht oder durch etwas Spezielles besänftigt werden muss. Jede Gruppe von Geistern hat eine bestimmte Farbe, wenn möglich, werden die "Sieben Farben der Nacht" gespielt. Der Moquadem bedeckt die jetzt als Trancetänzer auftretenden Teilnehmer mit farbigen Tüchern in der Farbe des Geistes, der gerade bespielt wird, räuchert mit Baumharz, kümmert sich um die Tänzer oder versorgt die in Trance Gestürzten. Von Seiten der Musiker und des Moqadems finden auch szenische Darstellungen der Geister zu Anfang der Liedgruppen statt. Nach den Liedstrophen improvisiert der Maalem auf dem Gembri, die Qraqebspieler schlagen einen westafrikanischen zwölfachtel Beat, das Tempo wird bis zur Raserei gesteigert, der Maalem führt die Tänzer in die Trance und bis zum Sturz. Danach findet eine kurze Entspannung statt, bevor das Lied für den nächsten Mluk angestimmt wird.
Nach der letzten Beschwörung im frühen Morgengrauen wird oft noch ein Tanzlied, ein Bauchtanz für alle gespielt, man sitzt bei Tee und Gebäck noch ein wenig zusammen, bevor die magische Versammlung wieder auseinander geht.
Thomas Gundermann, Mai 2020